Tod eines Gletschers

Die Schweizer Gletscher schmelzen wegen des Klimawandels schnell ab. Bis zum Jahr 2100 könnten sie grösstenteils verschwunden sein. Der nächste auf der Todesliste ist der Pizolgletscher. Eine Sterbebegleitung in den Alpen. 

Der Wildsee ist ein beliebter Halt auf der Route zum Pizol. Die Farbe entsteht, weil die winzigen Gesteinspartikel das Licht streuen. Ganz hinten ist gerade noch der letzte Fleck des Pizolgletschers sichtbar.
Der Wildsee ist ein beliebter Halt auf der Route zum Pizol. Die Farbe entsteht, weil die winzigen Gesteinspartikel das Licht streuen. Ganz hinten ist gerade noch der letzte Fleck des Pizolgletschers sichtbar.

Eine offizielle Todesliste gibt es nicht. Aber Matthias Huss, der Glaziologe, weiss aufgrund seiner Messungen und Modellrechnungen doch ungefähr, wann die Zeit eines Gletschers gekommen ist. Dieses Jahr ist der Pizolgletscher an der Reihe. Huss ist unterwegs, um die letzten beiden Messstangen aus seinem Eis zu ziehen und ihn danach dem Tod durch Klimaerwärmung zu überlassen.

 

Mit dem Pizolgletscher verliert die Schweiz eine touristische Attraktion. Für Heerscharen von Wanderern war er ein beliebtes Foto-Sujet. Er liegt auf 2700 Meter über Meer nur ein kurzes Stück unter dem namensgebenden Berg in den Glarner Alpen. «Noch 2006 konnte man über das Eis fast bis zum Gipfel hochwandern», erinnert sich Huss, der die Tour im Rahmen seiner Forschung inzwischen über fünfzig Mal gemacht hat. 

 

Seither ist der einst mächtige Eispanzer zu einer zerflederten Kruste verkommen, die wie ein ausgespuckter Kaugummi an der Felsflanke des Berges klebt. Es ist heuer wohl das letzte Mal, dass man ihn offiziell als «Gletscher» bezeichnen darf. «Alles, was kleiner ist als eine Hektare, gilt nicht mehr als Gletscher», sagt Huss. «Solch kleinen Objekten fehlt die typische Dynamik wie etwa das Fliessen der Eismassen.» Ab nächstem Jahr heisst es dann treffenderweise «Toteis». 

 

Der Aufstieg erfolgt ab der Pizolhütte, nachdem man sich von Gondel und Sessellift auf rund zweitausend Meter über Meer hieven liess. «Weil der Berg so einfach zugänglich ist, gibt es hier fast immer eine Völkerwanderung», sagt Huss. Der erste Marschhalt ist der Wildsee – eine intensiv türkis leuchtende Perle eingerahmt von einem scharfkantigen, mit Haifischzähnen versehenen Felsenkamm. Die surreale Farbe des Sees ist ein Geschenk des Gletschers. In seinem Innern hat er während Jahrtausenden Steine zu einem feinen Pulver zerrieben. Der Bach, der vom abschmelzenden Eis gespeist wird, trägt das Pulver in den See, wo es das einfallende Licht in dieser irrsinnigen Weise streut.

 

Huss ist Leiter des Schweizerischen Gletschermessnetzes GLAMOS. Es wird gleichermassen von der ETH Zürich und den Universitäten Freiburg und Zürich unterhalten. Ziel ist es, den Rückgang der Gletscher zu dokumentieren und mögliche Umweltveränderungen und Gefahren wie drohende Felsstürze oder berstende Gletscherseen zu erkennen. Dazu führen die Forschenden Messungen auf über hundert Schweizer Gletschern durch. 

 

«In der Schweiz begann man damit um 1880. Damals bestimmte man allerdings lediglich die Längenänderung, indem man Jahr für Jahr die Position der Gletscherzunge vermass.» Das allein liefert jedoch zu unsichere Daten, weil beim Rückzug der Gletscherzunge nicht nur das Klima, sondern auch das Gelände eine Rolle spielt. Darum setzen die Forscher heute auf die präzisiere Massenbilanz. Dazu wird die Abnahme der Dicke des Eispanzers an möglichst vielen Stellen erfasst. Die Geräte dafür sind einfach und bestehen aus Eisbohrer und Metallstangen. Letztere stecken die Forscher ein paar Meter tief in die Borlöcher im Eis. Je mehr der Gletscher im Folgejahr abgeschmolzen ist, desto mehr Stange schaut oben heraus. Ein Computermodell berechnet aus den einzelnen Messungen den gesamten Masseverlust des Gletschers pro Jahr. Das alles ist sehr aufwendig und wird darum heute bei nur zwanzig Gletschern gemacht.

 

Matthias Huss ist im September fast jeden Tag auf einem anderen Gletscher unterwegs, um die jährliche Abschmelzung zu messen.
Matthias Huss ist im September fast jeden Tag auf einem anderen Gletscher unterwegs, um die jährliche Abschmelzung zu messen.

 

September ist für die Forscher von GLAMOS der intensivste Monat im Feld. «Es ist das Ende des hydrologischen Jahres. Die jährliche Abschmelzung der Gletscher befindet sich auf dem Höchststand», sagt Huss. Die Forscher müssen sich sputen, wenn sie bis zum ersten Schneefall alle Stangen besuchen wollen. «Gestern waren wir am Piz Palü im Engadin und gleichentags noch beim Corvatsch-Gletscher ein Tal weiter.» Ein 16 Stunden-Tag mit ein paar brutalen Höhenmetern in den Beinen. 

 

Gepaart werden die Felddaten mit Luftbildern des Bundesamts für Landestopografie. Alle sechs Jahre werden diese aktualisiert. Das liefert die Fläche aber auch die absolute Höhe des Eises über Meer.

 

Wohin die Daten zeigen, ist klar: das Zeitalter der Alpengletscher geht zu Ende. Über den ganzen Alpenbogen verteilt gibt es zwischen Frankreich im Westen und Österreich im Osten noch rund 3500. Die allermeisten davon sind bereits heute nur noch wenige Hektaren gross. Wenn nichts gegen den Klimawandel unternommen wird, löst sich über die Hälfte von ihnen bis 2050 auf. Bis zum Ende des Jahrhunderts sind sie voraussichtlich alle weg. Dann wird sogar der grosse und erhabene Aletschgletscher zu ein paar verstreuten Toteisresten verkümmert sein. Kinder, die heute geboren werden, erleben das an ihrem achtzigsten Geburtstag.

 

«Klimaveränderungen gab es in der Erdgeschichte schon immer. Aber das waren immer sehr langsame Prozesse. Heute geht alles ganz schnell, weil der Mensch eingreift. Er dreht an einer Stellschraube des Systems, was die Temperaturen in Rekordtempo nach oben schnellen lässt», sagt Huss.

 

Am Hang kleben die letzten Überreste des Pizolgletschers. Das Gebiet ist stark steinschlaggefährdet, weil das Eis den Hang nicht mehr zu stützen vermag.
Am Hang kleben die letzten Überreste des Pizolgletschers. Das Gebiet ist stark steinschlaggefährdet, weil das Eis den Hang nicht mehr zu stützen vermag.

Eine Dreiviertelstunde nach dem Wildsee steht er am Fusse des Pizolgletschers. Er hält einen Sicherheitsabstand zum Hang, denn hier herrscht akute Steinschlaggefahr. Unten bei der Talstation warnte eine Tafel vor diesem Gebiet. Es ist als Sperrzone bezeichnet. «Der Gletscher hat die Bergflanke wie ein Korsett gestützt. Über die Jahrtausende ist der Fels unter dem Eis erodiert und zerfallen. Jetzt ist das Eis weg und alles kommt runter.»

 

Huss zieht einen Bergsteigerhelm an und geht an den Hang. Immer wieder schaut er nach oben, um sich zu vergewissern, dass der Fels sich nicht rührt. Nach wenigen Minuten erreicht er die Eiskannte. Dort schnürt er Steigeisen auf seine Tourenschuhe. Er sprintet das Eis hinauf als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. Die Messstange ist aus der Ferne als dünner Strich am oberen Rand sichtbar. 

 

An diesem Gletscher hat Huss 2006 mit Messungen begonnen. Damals waren acht Stangen von unten bis oben über seine ganze Fläche verteilt. Die Abtaurate war phänomenal. Das Eis verlor in manchen Jahren über vier Meter an Mächtigkeit. 2018 brach der Pizolgletscher schliesslich auseinander. In jedem der beiden Stücke hat noch eine Stange überlebt. «Aber die sind nicht mehr repräsentativ. Das gibt uns nur noch eine Schätzung des Eisverlustes», sagt Huss. 

 

Heute ist der Gletscher nur noch ein paar Meter dick. Inzwischen hat Huss die Stange erreicht. Zum letzten Mal legt er das Massband an: 1,3 Meter beträgt heuer die Abschmelzung. Danach zieht er die Stange heraus und traversiert zum zweiten Bruchstück. Der graue, drohende Fels oberhalb von ihm lässt ihn gewähren. Die zweite Stange ist jedoch unauffindbar. Sie liegt unter einer dünnen Schicht Schnee begraben. Es ist das Resultat eines schneereichen Winters, auf den ein kühler Sommer folgte. Das ist gut für das Eis, aber so ein Einzelereignis kann den Pizolgletscher und all die anderen auch nicht mehr retten.

Der Wildsee vom Kamm des Pizols aus gesehen. Der Gletscher befindet am linken Rand.
Der Wildsee vom Kamm des Pizols aus gesehen. Der Gletscher befindet am linken Rand.

 

Einen Lichtblick für die Zukunft gibt es allerdings. Es sind die inoffiziell als «Mikro-Gletscher» bezeichneten Objekte. «Das sind Schneeflächen von wenigen Quadratmetern, die in einem Schattenloch liegen. Wenn im Winter eine dicke Schneeschicht darauf fällt, bildet sich darunter Eis.» Ein Beispiel für einen solchen Winzling ist der Blauschnee unter dem Gipfel des Säntis. Sie könnten selbst das schlechteste Klimaszenario überleben.

 

Huss kehrt über ein paar Felsblöcke auf die Sicherheit des Bergwanderwegs zurück. Nur wenige Minuten später, macht der Berg seine unausgesprochene Drohung war. Als Auftakt lässt er ein paar faustgrosse Steine los. Sie klimpern fast verlegen über die grösseren Quader. Sie bleiben liegen; Stille kehrt ein. Augenblicke später kracht es nur noch. Nur wenige Meter vom markierten Weg entfernt rauschen knirschend und polternd ein paar Kubikmeter Geröll und Gesteinsblöcke in die Tiefe. Danach ist es erneut minutenlang gespenstisch still und dann schickt der Berg gleich nochmals dieselbe Menge auf Talfahrt. Erosionsvorgänge, die sich normalerweise über Jahrhunderte und Jahrtausende erstrecken, finden im post-glazialen Zeitalter während der Spanne einer Viertelstunde statt. «Da hätte ein Helm auch nicht viel genützt», meint Huss trocken. «Das ist auch ein Grund, warum wir die Messungen bei solchen Objekten einstellen. Es ist einfach viel zu gefährlich, sich hier aufzuhalten.»

 

Erschienen in der NZZ am Sonntag.

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